Möbel im Jugendstil als gewollter Kontrapunkt

Der Jugendstil war zugleich Ende und Anfang. Ende des alle neuen Ideen im Keim erstickenden Klassizismus. Und Anfang einer kreativen Zeit, die Erfindung des Designs.

Die Vertreter des Jugendstils waren die Wegbereiter für die im Bauhaus tätigen Architekten, Künstler und Gestalter. Und damit auch die Wegbereiter für die klassische Moderne, für Le Corbusier, Charles Eames oder Philipp Starck. Obwohl zur vorletzten Jahrhundertwende gleichsam revolutionär, passen Möbel und Accessoires aus dieser Zeit als gewollter Kontrapunkt in jede moderne Wohnlandschaft.

Vom Historismus zum Jugendstil 

Der Jugendstil entstand wohl in Reaktion auf das „stillose“ 19. Jahrhundert. Die für die erst langsam mittelalterlichen Strukturen entwachsende Bevölkerung verstörenden und revolutionären Entwicklungen in Gesellschaft, Naturwissenschaft und Technik sprengten so sehr die bisher üblichen Vorstellungen, dass die Flucht in eine trostlose Scheinwelt nicht verwundern darf. Die Aufklärung, die Verbreitung der Dampfkraft mit der Grossindustrialisierung im Gefolge, der Neoabsolutismus und die beginnende Nutzung der Elektrizität überforderten das Weltbild der meisten Leute. Folge davon war der Rückzug ins Private, die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“, die sich kulturhistorisch im sogenannten „Historismus“und „Klassizismus“ äusserte.

Die neue Leichtigkeit des Seins

Das neue Weltbild wurde also lange verweigert, der Historismus sollte verteidigend gegen alles Neue wirken. Dennoch verdeckten die mächtigen, wuchtigen Bauten und Möbelstücke dieser Zeit nur unzulänglich die Bedrängung, die man vor dieser Gegenwart spürte. Es war Zeit für eine „neue Leichtigkeit des Seins“, für die Zurückgewinnung von Kreativität und Schönheit. Für eine Revolution in der Gestaltung der Alltagsgegenstände und der Architektur mit künstlerischem Anspruch. Zeit für den aufkeimenden Jugendstil.

Ein künstlerischer Stil

Da der Jugendstil, im deutschsprachigen Raum benannt nach einer Kulturzeitung mit dem Titel „Jugend“, hauptsächlich ein künstlerischer Stil und weniger ein Zeitstil war, hatte er auch kein einheitliches Gesicht. Dennoch gab es einzelne kreative Genies, die dieser Zeit bis heute ihr Gepräge geben. Denken wir nur an den österreichischen Maler Gustav Klimt. Seine wunderbaren Bilder voll von innerer Schönheit, seine leicht abstrahierten Porträts geheimnisvoller Frauen, vermitteln unter Verwendung von viel Gold und lebender Farben eine grossartige Leichtigkeit und Lebensfreude trotz zart angedeuteter Melancholie. Freilich sind diese Bilder, wie etwa „Der Kuss“ oder „Die Dame mit Fächer“ mit zuletzt erzielten Preisen in Multi-Millionen-Höhe für den normalen Wohnungsbesitzer unerschwinglich. Doch sind es gerade leicht erhältliche Kunstdrucke dieser beiden Meisterwerke, die heute einen Farbtupfer in unzählige Wohnbereiche bringen.

Fantastische künstlerische Qualität

Der bekannteste Architekt dieser Zeit war wohl Otto Wagner, der der Stadt Wien mit seinen beinahe unzähligen Bauten ein neues Gesicht gab. Heute noch faszinierend sind seine überall in der ehemaligen Kaiserstadt zu findenden S-Bahnhöfe. Nutzbauten mit fantastischer künstlerischer Qualität, einheitlich gestaltet bis ins Detail. Das spektakuläre Interesse, das der Jugendstil weckte, konnte aber auf Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Publikum lediglich durch die überbordende Ornamentik, durch die von den Künstlern jeweils gewollte Betonung der eigenen Handschrift, begeistert, aber auch betäubt wurde. Es ging in Wahrheit noch nicht um die Gewöhnung an ernst gemeinte Reformen. Vielmehr wurden altbekannte Inhalte neu und sehr gefällig verpackt. Echte gesellschaftliche Reformen wollten dann erst die Vertreter des Bauhauses durch ihr Schaffen anstossen.



Sensible und vermögende Auftraggeber

Anfangs konnte sich der Jugendstil nur entwickeln, weil sensible und gleichzeitig vermögende Auftraggeber die Künstler förderten. So vor allen anderen Harry Graf Kessler. Ein unabhängiger, reicher, weltaufgeschlossener Diplomat, Kunstsammler und Herausgeber bibliophiler Drucke. Dieser Harry Graf Kessler war es, der den bedeutendsten Möbeldesigner des Jugendstils, nämlich Henry van den Velde, zeitlebens förderte und unterstützte. Er liess sich von van den Velde in Weimar eine Wohnung einrichten, die zum Musterbeispiel des Wohngefühls dieser Ära wurde.

Heiter und farbenfroh

Henry van den Velde vermied den Einsatz der zu dieser Zeit üblichen erdrückenden Kronleuchter. Viele kleinere Leuchtquellen übernahmen diese Funktion. In den Räumen Salon, Speisezimmer und Arbeitszimmer wurde ein durchgängiger Mattenboden verlegt. Keine zusätzlichen Teppiche sollten von den speziell geschaffenen Möbeln ablenken. Da die Wohnung neutrale Räume aufwies, verlieh ihnen van den Velde eine deutliche architektonische Gestalt, indem er sie mit Paneelen und festen Bildumrahmungen gliederte. Die heiteren, farbenfrohen Bilder, die im Fundus seines Auftraggebers waren, steckte er in Abkehr von den schweren goldenen Bilderrahmen dieser Zeit in leichte, dünne Rahmen, die die Heiterkeit der Bilder betonten.

Künstlerischer Kniff

Stilbildend und einladend das Sofa im Arbeitszimmer, das entweder Ruhestatt für einen Einzelnen oder Sitzplatz für zwei Personen war. Eine weich-gerundete Rückenlehne, die leicht beweglich war, sorgte dafür, dass man gerne die Arme weit ausbreitete, um entspannt zu sitzen. Besonders auffallend waren die Sitzmöbel und Tische im Salon. Van den Velde war bekannt für seinen künstlerischen Kniff, die Überleitung von den Beinen in die Zarge ornamental zu gestalten. Es ging ihm darum, formal abrupte Übergänge zu vermeiden und dennoch die konstruktive Verbindung der einzelnen Teile sichtbar zu machen.

Harmonischer Kontrapunkt

Heute können Sie im Antikhandel und selten noch auf Flohmärkten auf die Hinterlassenschaften des Jugendstils stossen. Auf Möbel, Bilder, Lampen oder auch Geschirr. Meist sehr geschmackvolle Exemplare voller Ornamentik und Strahlkraft. Jedes für sich meist geeignet, auch in ansonsten modern eingerichteten Wohnungen einen harmonischen Kontrapunkt zu setzen und etwas Flair dieser Kunstbewegung in die Wohnlandschaft zu bringen.

 

Oberstes Bild: © Tr1sha – Shutterstock.com

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